21|3|13 - Out of my Comfort Zone
Heute bin ich auf so viele Weisen aus meiner Komfortzone gestolpert, es gehört dokument.
Zunächst einmal war die Küche heute morgen derart widerlich verdreckt, das übersteigt jede studentische Toleranz: Irgendjemand (vermutlich mein neuer Mitbewohner) meinte, er müsste auf und neben den übervollen Mülleimern noch sehr viel mehr Müll stapeln und ich musste mein Geschirr im Badezimmer waschen, weil das Waschbecken verstopft und randvoll mit einer nicht näher definierten braunen Flüssigkeit war. Meine Mail an meine Agentur war erfolglos (O-Ton: Du bist erwachsen, räum doch selbst auf! Wir schicken doch keinen, der das Waschbecken repariert, ha!), aber zum Glück haben meine Mitbewohner heute mal ordentlich aufgeräumt, bis ich heimkam. Trotzdem unangenehm, sich beschweren zu müssen und dann so unhöflich von oben herab behandelt zu werden.

Obwohl wir heute auf der Arbeit besonders viel gelacht haben (es ging so weit, dass meine Kollegen fragten, ob ich mit meinem Chef verheiratet sei, denn wir ärgern uns gern gegenseitig), war es ein etwas schwieriger Tag. Hauptsächlich habe ich das Protokoll eines Teammeetings von Montag zusammengetragen und da ich Montag nur die Hälfte der Akronyme, Namen etc. verstanden habe, dämmerte mir schon vor dem Gespräch mit meinem Chef, dass das nicht das Goldene vom Ei sein würde. Wars dann auch nicht, und auch, wenn es mir nicht peinlich sein sollte, dass ich als Nicht-Muttersprachlerin nicht jede Insider-Abkürzung verstehe, ist es sehr unangenehm, bei der radikalen Korrektur deiner Arbeit zuzusehen. Da hilft es auch nicht, dass sie mir heute offenbart haben, dass sie mich gerne behalten würden :) Auch mein Interview wurde auf nächste Woche verschoben, sodass ich etwas enttäuscht bliebt.
Nach der Arbeit mal wieder an der Liverpool St herumgeirrt und mich schließlich im Touristenzentrum beraten lassen, um 19 Princelet Street nahe den hippen, bunten, leuchtenden Spitalfield Markets zu finden.


Das Immigranten-Museum dort ist ein echter Geheimtipp und das erste seiner Art in Europa. Das historische Grad-II-Gebäude ist so fragil, dass es nur 10 mal jährlich seine Pforten öffnet und wenn man sich nachts in die Warteschlange der jungen Leute einreiht, die auf Einlass warten, fühlt man sich zugleich kulturell gebildet, heillos cool und so, als würde man in einen geheimen Club initiiert werden. Der sehr nette Freiwillige, der Infomaterial verteilte, hat mir am Ende noch extra Blätter mitgegeben und herzlich die Hand geschüttelt, als ich ihm erklärte, ich würde über das Museum bloggen. Es ist wirklich etwas anderes, sehr surreal: Halb viktorianisches Stadthaus ehemaliger Immigranten, halb jüdische Ex-Kirche inklusive Gallerie und Seminarraum. Alte Möbel, Koffer und Projekte mit Künstlern und Schulkindern rufen in dem sehr kalten Gebäude zum Nachdenken auf und man wird gefragt, welche eigenen Wurzel und Wege man hat. Diese Leute haben notgedrungen außerhalb ihrer Komfortzone gelebt und manche, wie ich, gehen nur zu gern dieses Risiko ein.

Ich war wie vor dem Kopf geschlagen - ich hab mir in den letzten 4 Wochen (und auch nicht in den 6 Monaten davor) niemals darüber Gedanken gemacht, dass ich hier Immigrantin bin/wäre, oder, noch schlimmer, dass man mich hier als Fremde nicht wollen würde. Da ich London so liebe, habe ich automatisch angenommen, ich wäre hier einigermaßen willkommen, obwohl das ja gar nicht der Fall sein muss. Erstaunlich, wie man in London ein Gebäude betreten und mit völlig neuen Ansichten herausspazieren kann, jeden Tag fünf Mal, wenn man es darauf anlegt. Es war erleichternd, mal gefragt zu werden, wie ich meine kulturelle Identität bepfinde. Ich bin natürlich von Kopf bis Fuß schrecklich langweilig deutsch und werd es stets bleiben, aber im Herzen bin ich englisch. Das würd ich natürlich niemandem ins Gesicht sagen, denn sicherlich würde mich jeder Londoner dafür verlachen, nach nur zwei Monaten Ansprüche auf diese Nationalität gelten zu machen. Aber in den letzten fünf Jahren habe ich mental schon in dieser Stadt gelebt, und wenn ich zurückgekehrt bin, werde ich den Rest meines Lebens damit fortfahren. Ich liebe London, aber jeden Tag muss ich mit den Unannehmlichkeiten des Fremdseins abfinden: Das hilflose Verirren und Nach-Wörtern-Suchen, das ständige Fremde-Um-Hilfe-Bitten. Bis dahin hatte ich kaum einen Gedanken daran verschwendet, dass ich halb Alien und halb eingefleischte Londonerin bin.

Bitte geht mal hin, wenn sich Euch die einmalige Gelegenheit bietet, und denkt einfach mal darüber nach - ob als Touri oder Einwohner, die Gelegenheit ist so selten und das Museum umsonst.